Von Bernd Niquet
Zuletzt habe ich einige Entwicklungen beobachtet, die mir gar nicht gefallen. Das Schlimmste daran ist jedoch, dass ich sie nicht auf die Welt und die anderen abwälzen kann, sondern ich eigentlich selbst dafür verantwortlich bin.
Seit mehr als vierzig Jahren habe ich stets die Nachrichten in der Tagesschau angeschaut. Jetzt hingegen sehe ich sie bei RTL 2. Ich kann es einfach nicht mehr ertragen. Auch die Geschehnisse in der FDP interessieren mich kein Stück. Ich sollte, aber ich will nicht. Das hat mit meinen Leben nichts zu tun. Die Eskapaden eines betrunkenen US-Schauspielers gehen mir da schon näher, obwohl ich ihn gar nicht kenne. Aber da kann ich mich hinein versetzen, in FDP-Leute nicht.
Ich denke, das Tittytainment hat mich jetzt endlich für sich eingefangen. Lange habe ich mich gesträubt, doch jetzt ist es so weit. Und ich weiß gar nicht, ob ich traurig oder froh darüber sein soll. Endlich bin ich vollständig in der Gegenwart angekommen. Und so schlecht machen die das gar nicht mit den Nachrichten bei RTL 2.
Über Japan würde ich gerne mehr erfahren, doch Brennpunkte gibt es ja mittlerweile nur noch zur Innenpolitik. Ist auch irgendwie lustig: Da haben die Medien die Politik heftig dafür kritisiert, die Außenpolitik aufgrund von Landtagswahlen zu innenpolitischen Zielen zu instrumentalisieren, doch seitdem gibt es in den Medien fast nur noch Inneres.
Ebenfalls komisch ist: Als in Japan das Schlimmste befürchtet werden musste, gab es täglich Sondersendungen im Fernsehen und die Börse ging in die Knie. Seitdem das Schlimmste dort jedoch Gewissheit ist, interessieren sich die Medien nicht mehr dafür und die Börsen haussieren.
Um wieder in anspruchsvolles Terrain zu geraten, habe ich mir das Buch „Das Gespenst des Kapitals“ des Berliner Literaturprofessors Joseph Vogl besorgt. „Vom ungedeckten Wechsel auf die Zukunft“, schreibt meine Zeitung und schwärmt über den „brillanten Essay“, „ eine Hermeneutik des Finanzkapitals“, die derzeit Begeisterung auslöse.
Obwohl mich das Thema brennend interessiert und ich darüber sogar promoviert habe, verstehe ich kaum ein Wort. Das mag natürlich an dem wunderbaren englischen Bier liegen, was am selben Tag mit der Post gekommen ist und dem ich schon reichlich zugesprochen habe, weil es ja weit weniger Umdrehungen als deutsches Bier hat – oder doch nicht?
Gerade erst habe ich diese Quelle aufgetan und jetzt schmeckt das „John Smiths Extra Smooth“ aus der Dose genauso gut wie auf der Insel aus dem Hahn. Für mich ist das die größte Segnung der Globalisierung, wirft jedoch die Frage auf, was ich zukünftig eigentlich noch auf dieser Insel wollen kann?
Ich kämpfe mich weiter durch „Das Gespenst des Kapitalismus“ und entdecke dabei in mir eine Mischung aus Frust und guter Laune. Es ist wirklich so, ich verstehe es nicht. Ich muss laut auflachen. Auch dieser eigentlich vernichtende Befund beinhaltet ja einen positiven Aspekt: Endlich bin ich frei von diesem Quatsch mit den Wirtschaftstheorien. Das hat mich schon viel zu lange beschäftigt.
Als ich schließlich auf Seite 55 auf den folgenden Satz stoße, höre ich auf zu lesen: „Die ausgleichenden Kräfte des Marktes liefern demnach ein privilegiertes Bildreservoir, aus dem moderne Gesellschaften ihre Selbstrepräsentation gewinnen. Vor allem aber liegt darin der dauerhafte Kern einer liberalen Oikozidee: Sie verhandelt die Konsistenz einer möglich Welt.“
Dann doch lieber Tittys. Ist ja sowieso alles Onanie, denke ich. Jeder splotzt etwas heraus, trifft jedoch nicht weiter als bis ins eigene Taschentuch. Endlich weiß ich jetzt, warum wir uns alle gegenseitig nicht verstehen und ich mich schon seit jeher so schwer mit der Literatur, der Literaturkritik und Literaturwissenschaft getan habe.
Der eine versteht den anderen nicht mehr, das geht ja eigentlich noch. Schwierig wird es erst, wenn der eine Politiker den anderen Politiker und der eine Finanzmensch den anderen nicht mehr versteht. Doch so weit sind wir dann doch noch nicht ganz.
Anregungen oder Kritik bitte an Bernd Niquet.
… AUCH 2011 IMMER NOCH AKTUELL: DIE FINANZKRISE!
Bernd Niquet, "Wie ich die Finanzkrise erfolgreich verdrängte", Leipzig 2010, 465 Seiten, 16 Euro, ISBN 978-3-86901-830-0.
Jetzt hier bestellen.