Von Bernd Niquet
Ich erinnere mich noch gut an den Mann, der lange vor dem Mauerfall in Berlin ständig den Kurfürstendamm rauf und runter lief und dabei ein Plakat bei sich trug, dass er sich von Antennen und Satelliten verfolgt fühlte. Ich hoffe inständig, dass ich nicht auch einmal so enden werde. Doch ich denke, was ich heute vorzubringen habe, besitzt mehr Realitätsgehalt.
Es begann alles, als in der Nachbarschaft neue Mieter einzogen. Da änderte sich plötzlich alles. Zuerst habe ich den Zusammenhang nicht herstellen können: Warum riecht es hier jetzt so unangenehm? Ein süßlicher Geruch war das, zum Glück habe ich noch nie Leichengeruch gerochen, aber es roch auch irgendwie chemisch. Was war das nur? Vielleicht ein Mittel, um den Geruch der Leichen im Keller zu übertünchen?
Manchmal greift jedoch die Phantasie viel zu weit und die Lösung ist sehr banal. Der Grund für den Geruch lag in dem Waschmittel, dass diese Familie verwendet, zudem wohl in einer grotesken Überdosierung.
Von diesem Moment an war ich wie ein Spürhund. Wenn ich abends vom Joggen kam, konnte ich bereits von der Litfaßsäule aus riechen, ob diese Familie gerade ihre Haustür offen hatte oder nicht. Das ist eine Entfernung von gut 100 Metern. Irrtumsquote bei mir dabei: null.
Auch wenn ich manchmal am Wochenende am See entlang lief, konnte ich diesen Geruch wahrnehmen, doch jeweils nur in geringer Dosierung, nicht so, wie bei mir zu Hause. Denn hier musste ich im Sommer stets das Fenster schließen, wenn diese Leute ihre Wäsche im Garten aufgehängt hatten.
Zu diesem Zeitpunkt dachte ich daher, es handele sich um ein selektives Problem. Und mir war noch etwas aufgefallen: Einmal bin ich bei diesen Nachbarn zu Besuch gewesen, da konnte man innerhalb der Wohnung kaum etwas reichen. Doch sobald sich die Duftstoffe des Waschmittels mit dem Sauerstoff der frischen Luft draußen mischen, ergibt sich eine regelrechte Geruchsexplosion.
Im Winter hatte sich dieses Problem dann zum Glück entschärft. Allerdings nur bis zur vergangenen Woche. Denn da war ich im Land Brandenburg unterwegs und bin dabei durch eine dieser Unterschichten-Hochhaussiedlungen einer Vorstadt gelaufen. Und plötzlich spürte ich, dass diese gesamte Siedlung nach diesen künstlichen Duftstoffen roch. Bei dem Übeltäter-Waschmittel handelt es sich also anscheinend um ein preisgünstiges Unterschichten-Waschmittel.
Den Glauben an ein selektives Phänomen muss ich mir also wohl abschreiben. Es scheint eher eine Lawine zu sein, die da auf uns zurollt.
Da haben wir jetzt also die schärfsten Umweltverordnungen der Welt, haben überall Lärmschutzwände, Feinstaubrichtlinien und Umweltschutzzonen, doch die Industrie verstinkt jetzt unsere Welt völlig legal und beinahe schon subversiv auf eine andere Weise als durch Rauch und Schwefel wie früher.
Warum die Menschen dabei jedoch mitmachen? Tja, es riecht ja heute kaum noch jemand mehr etwas. Wahrscheinlich ist das auch der Grund für dieses heftige Duftstoffkonzentrat. Damit die degenerierten Nasen überhaupt noch etwas merken. Quod erat demonstrandum.
Heute muss ja sowieso niemand mehr etwas fühlen, heute haben wir doch Messgeräte. Und die Waschmittelzusätze scheinen ja nicht gesundheitsschädlich zu sein. So etwas wird doch vorher stets in den Mägen von jungen Hunden getestet. Dafür gibt es doch die Tierversuche.
Vielleicht sollte man daher jetzt Nasenstopfen entwickeln, für die letzten Menschen mit noch intaktem Geruchssinn. Vielleicht ist das eine gute Geschäftsidee. Doch wahrscheinlich erweist sich schon die rechnerische Quantifizierung der Zielgruppe als wesentlich zu klein.
Geruchsfreiheit ist wie Geräuschlosigkeit, Werbelosigkeit, Maßhalten, Selbstbestimmung und viele anderen antiquierte Dinge eben ein analoges Konzept, das in unserer heutigen Dicketalwelt keinen Platz mehr hat.
Anregungen oder Kritik bitte an Bernd Niquet.
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BUCH-NEUERSCHEINUNG: Bernd Niquet, „Jenseits des Geldes“, Leipzig 2011, 506 Seiten, 18 Euro, ISBN 978-3-86268-408-3.
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Das Geld hat den Menschen aus langen historischen Abhängigkeiten befreit. Wer heute etwas haben möchte, bezahlt mit Geld und muss keine anderweitigen Gegenleistungen mehr anbieten. Die meisten Bereiche unseres Lebens liegen allerdings jenseits des Geldes. Wie steht es jedoch jenseits des Geldes mit der Freiheit? Bernd Niquet verfolgt den Lebensweg einer Gruppe von Menschen und stellt fest, dass selbst der Wegfall materieller Restriktionen uns nicht von unseren alten Fesseln befreit. Im Gegenteil, die Vergangenheit bestimmt weit stärker über uns als die gesamte Geldsphäre das je vermag.