Von Bernd Niquet
Ja, ich habe auch immer auf unser Rechtssystem geschimpft. Dass dort alles so bürokratisch ist, dass alle Dinge unendlich lange zu dauern scheinen, dass es schwierig ist, sein Recht zu bekommen, sich niemand um die Opfer kümmert und alle diese anderen Punkte, die noch dazu gehören.
Manchmal jedoch dreht sich die Sache auch einfach um.
Es ist gar nicht lange her, das ist eine Familie mit kleinen Kindern in das Haus gezogen, in dem in der anderen Wohnung nur ein alleinstehender älterer Herr wohnt, den man den ganzen Tag nicht sieht und der eigentlich wohl nur seine Ruhe haben will.
Doch es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt. Was genau zwischen den beiden Mietparteien vorgefallen ist, lässt sich von außen nicht rekonstruieren, doch plötzlich muss der alleinstehende Herr feststellen, von der neuen Familie im Haus angezeigt worden zu sein.
Und das nicht zu knapp: Auf Hausfriedensbruch, Bedrohung und sogar Stalking lautet die Anzeige. Da er sich in solchen Dingen nicht auskennt, auch nicht einmal weiß, was Stalking bedeutet, wendet er sich an einen Anwalt. Der beantragt Akteneinsicht.
Jetzt liegen die Akten vor und der alte Mann sitzt bei mir, um mit mir über diesen Fall zu reden. Und es offenbart sich ein menschliches Drama. Aber nicht bei ihm, sondern auf Seite der Familie. Der Anwalt hat daher auch gesagt, die Vorwürfe seien haltlos und es werde keinen Prozess geben.
Der Mann ist so erleichtert, dass ihm beinahe die Tränen kommen. „Was haben wir da für Großartiges geschaffen“, sagt er mit großer Rührung zu mir, „früher hätte man mich doch einfach von der Straße weg verhaften und einsperren können. Und dann hätte vielleicht niemand jemals wieder etwas von mir gehört.“
Zum ersten Mal erlebe er jetzt die Freiheit, die unser Rechtssystem dem normalen Bürger zuweist, persönlich am eigenen Leibe, meint er. Und das sei etwas ganz anderes, als was man sonst überall lesen und hören würde. Diese Erfahrung sei unmittelbar.
Dann erläutert er den Fall: Es habe einmal am Anfang eine Auseinandersetzung gegeben, da sei er zur rückwärtigen Eingangstür des neuen Mieters gegangen, um mit ihm zu reden. Doch es wäre niemand da gewesen. Hinterher hätte sich dann herausgestellt, dass der Familienvater mit den Kindern zu diesem Zeitpunkt schon aus dem Haus war und sich dort nur noch die Frau befand. Im selben Moment war dann der Vorwurf geboren, der ältere Herr bedrohe diese Frau.
Von da an wurden sämtliche Vorfälle im Haus von der Familie unter dieser Prämisse bewertet und dokumentiert. „Das ist völlig krank“, sagt der alleinstehende Herr zu mir, „da müssen einige heftige psychische Deformationen am Werke sein.“
Und dann, direkt an mich gewandt: „Und überlegen Sie doch einmal, diese Leute hätten Verbindungen nach oben und wir würden noch in einer ganz anderen Zeit leben.“ Erleichtert schaut er mich an: „Dann würde ich sicher nicht als freier Mann hier sitzen.“
Anschließend steht er auf, um sich zu verabschieden. Und ich habe deutlich das Gefühl, ihm schlottern regelrecht die Knie.
Anregungen oder Kritik bitte an Bernd Niquet.
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BUCH-NEUERSCHEINUNG: Bernd Niquet, „Jenseits des Geldes“, Leipzig 2011, 506 Seiten, 18 Euro, ISBN 978-3-86268-408-3.
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Das Geld hat den Menschen aus langen historischen Abhängigkeiten befreit. Wer heute etwas haben möchte, bezahlt mit Geld und muss keine anderweitigen Gegenleistungen mehr anbieten. Die meisten Bereiche unseres Lebens liegen allerdings jenseits des Geldes. Wie steht es jedoch jenseits des Geldes mit der Freiheit? Bernd Niquet verfolgt den Lebensweg einer Gruppe von Menschen und stellt fest, dass selbst der Wegfall materieller Restriktionen uns nicht von unseren alten Fesseln befreit. Im Gegenteil, die Vergangenheit bestimmt weit stärker über uns als die gesamte Geldsphäre das je vermag.