Von Bernd Niquet
Irgendwie finde ich das eine tolle Einrichtung mit dem Martinstag. Wann immer es möglich ist, mache ich mich deshalb auf, an diesem Tag irgendwo ein schönes Stück von der Gans abzubekommen.
Dieses Mal hat es mich in ein gutbürgerliches Viertel in Berlin zwischen der Innenstadt und den Außenbezirken geführt. Keine Luxusgegend, aber gesicherter Mittelstand. Wie lange bin ich dort nicht gewesen? Vielleicht ein, zwei Jahre nicht.
Doch als ich jetzt vor dem Essen noch ein wenig herumlaufe, erschrecke ich. Der Drogeriemarkt ist weg, der Laden steht leer. Ebenso ist es beim Reisebüro und der Bank. Überall Zu-vermieten-Schilder an den Läden. Ansonsten aber propere Geschäfte, Bio-Company, ein Bio-Fleischer. Der kleine Park allerdings in einer Weise vermüllt, wie ich es so in einer derartigen Lage noch nicht gesehen habe. Was ist hier los?
Dann bin ich im Wirtshaus, sehr netter Laden, gut besucht, nicht luxuriös, aber auch keine Kneipe. Der Gänsebraten kostet 19,90 Euro. Das sind fast 40 D-Mark. Meine Güte. Aber vielleicht muss man das heute nehmen? Wer weiß, woher die Gänse kommen?
Ich trinke zwei große Tegernseer Helle. Darauf habe ich mich fast noch mehr gefreut als auf die Gans. Hinterher sehe ich, das Bier kostet 4,50 Euro. Vorher habe ich so etwas nur an der Ostsee erlebt, eine 4 vor dem Komma. In Bayern kostet so etwas die Hälfte. Und vor der Euroeinführung war das der D-Mark-Preis. Für die Gans wahrscheinlich auch.
Die Transportkosten können hierbei nicht ausschlaggebend sein, denn heute wird ja alles quer durch Europa gekarrt. Mit „regional“ ist doch sowieso nichts. Und ob die Löhne und Mieten in Berlin so viel höher liegen als in Bayern? Die Mieten sicherlich. Vielleicht deutet die hohe Leerstandsquote an Läden in dieser Gegend ja darauf hin?
Und was ist mit den Löhnen? Vor der Euroeinführung gab es für Handlangerdienste einen Zehner die Stunde bar auf die Hand. In D-Mark. Heute scheint es mir genauso zu sein, nur eben in Euro. Die Putzen jedenfalls bekommen heute einen Zehner bar auf die Hand.
So würden sich die Relationen also durchaus ausgleichen. Die Löhne für Schwarzarbeit und das Preisniveau in der Gastronomie gehen Hand-in-Hand. Doch warum wurde dann so hart dafür gekämpft, einen Mindestlohn von 8,50 Euro einzuführen?
Hier zeigt sich, dass die Parität zwischen Preissteigerungen und Lohnentwicklung doch nicht gehalten hat. Und das erklärt sowohl die hohen Restaurantpreise als auch die Leerstände im Ladenbereich. Austauschbare Güter unterliegen einem rigorosen Preiskampf und erlauben nur geringe Gewinnspannen, kleine Änderungen führen hier sofort zum Aus, wohingegen Luxusgüter wie Restaurantbesuche mit den Einstandskosten nichts zu tun haben. Hier nimmt man, was man kriegen kann.
Beim Gansessen habe ich dann auch die ganze Zeit daran gedacht, dass viele Menschen so ein Essen nur auf den Hüften, niemals aber im Portemonnaie merken. Und eine bestimmt ebenso große Menge an Menschen für so einen Tag monatelang sparen müssten. Doch was sind das für Gedanken an so einem Tag? Ich dumme Gans.
Anregungen oder Kritik bitte an Bernd Niquet.
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Bernd Niquet, „Die bewusst herbeigeführte Naivität“, Engelsdorfer Verlag, Leipzig 2014, 265 Seiten, 14 Euro, ISBN 978-3-95744-306-9.
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