Von Bernd Niquet
Ich glaube, ich habe mich noch niemals derart außerhalb des offiziellen Lebens in unserem Land gefühlt wie in den vergangenen zehn Tagen. So in etwa habe ich mir George Orwell vorgestellt. Was spielt man uns da nur für ein Theater vor?
Doch vielleicht liegt die Politik hier allerdings gar nicht so falsch? Vielleicht stand die Situation in unserem Land nach den Attentaten von Paris tatsächlich Spitz auf Knopf? Ich fühle mich an das Wochenende vom Oktober 2008 erinnert, als die Kanzlerin sich genötigt fühlte, vor die Presse zu treten und eine Garantie der Spareinlagen zu verkündigen, weil man einen Zusammenbruch des Systems fürchtete.
Ist es heute wieder so? Nur dass es dieses Mal nicht um die Finanzen, sondern um die Gesamtgesellschaft ging und geht?
Der Bundespräsident hat verkündet, den Attentätern von Paris sei es darum gegangen, unsere Gesellschaften zu spalten. Woher weiß er das? Gesagt haben sie das nämlich nicht. Nach eigenen Aussagen ging es ihnen darum, die Verunglimpfungen des Propheten zu rächen. Und das ist etwas völlig anderes.
Man wird jedoch in führenden Kreisen Deutschlands und Europas gefürchtet haben (und immer noch fürchten), dass es das Resultat der Attentate sein könnte, dass sich die Gesellschaft spaltet. Daher auch der Appell, einerseits die Freiheit zu verteidigen, andererseits jedoch gleichzeitig die Freiheit zu Pegida-Demonstrationen unterbinden zu wollen. Erst so macht das einen Sinn.
Daher dann auch die riesige Theateraufführung mit den inszenierten und nicht wahrheitsgetreuen Bildern des Politiker-Trauermarsches in Paris, was zynischerweise just an dem Tag bekannt wurde, an dem der Begriff „Lügenpresse“ zum Unwort des Jahres erklärt worden ist. Und daher auch die Theateraufführung der Mahnwache in Berlin mit kreidefressenden Muslim-Funktionären, die plötzlich an erster Stelle der guten Patrioten stehen.
Wer hingegen auf des Volkes Meinung schaut, hört ganz andere Töne.
Besonders erschreckt habe ich mich über den Slogan „Ich bin Charlie“. Natürlich weiß ich, wie das gemeint ist, doch ich überlege mir, wie ich wohl selbst reagieren würde, wenn man jemanden aus meiner Familie erschießt? Würde ich da nicht eher wütend werden und härtere Gesetze fordern als mich selbst ebenfalls zu einem potentiellen zukünftigen Opfer zu deklarieren?
Hier läuft tatsächlich irgendetwas schief – auch in unserer Psyche. Man stelle sich nur einmal vor, die USA hätten nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 so reagiert. Aber nein, das ist unvorstellbar!
Wir lügen uns derzeit permanent selbst in die Tasche. Wir verbleiben in der Passivität und sagen mit „Ich bin Charlie“ nichts anderes als: Um eure Ziele zu erreichen, müsst ihr auch mich umlegen! Damit jedoch verschwinden die Täter gänzlich aus der Diskussion. Oder liest heute noch jemand etwas über sie und ihre Unterstützer?
Wir lügen uns auch damit selbst etwas vor, so (mutig) zu sein wie das Redaktionsteam von Charlie Hebdo. Das sind wir aber nicht. Wie die Realität aussieht, hat vielmehr gerade der von mir sehr geschätzte Kabarettist Dieter Nuhr beschrieben: „Sie können über Jesus Witze machen oder den Papst oder sogar Helene Fischer, aber wenn man nicht suizidgefährdet ist, lässt man den Propheten aus.“
So sieht die Wirklichkeit aus! Allerdings nur für die Menschen, die keinen 24-Stunden-Personenschutz genießen wie unsere Politikerelite, die andere beschimpft, die schrecklichen Attentate von Paris zu instrumentalisieren, selbst aber mit gestellten Fotos und Filmaufnahmen genau das für sich selbst tut.
Mein Befund zur Gegenwart lautet daher: Die Spitze unserer Gesellschaft leidet unter kollektiven Verdrängungen, was wie bei den Patienten von Psychoanalytikern der Fall ist und sich in nicht realitätsangepasstem Verhalten zeigt. Und ich denke, es gibt jetzt nur einen Weg: Jetzt muss alles offen auf dem Tisch. Jetzt darf und muss jeder aussprechen, was er denkt, so weh das vielleicht auch manchmal tun wird.
Die große Theateraufführung der abgelaufenen Woche mag durchaus angebracht gewesen sein. Doch jetzt sollte die Zeit derartiger Inszenierungen vorbei sein.
Anregungen oder Kritik bitte an Bernd Niquet.
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Bernd Niquet, „Die bewusst herbeigeführte Naivität“, Engelsdorfer Verlag, Leipzig 2014, 265 Seiten, 14 Euro, ISBN 978-3-95744-306-9.
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