Von Bernd Niquet
Die Schulklasse, die ich seit Langem verfolge, beendet in ein paar Wochen die neunte Klasse. Dann noch die zehnte, anschließend zwei Jahre Kurssystem und dann kommt bereits das Abitur. Die Jugendlichen sind zum größten Teil noch vierzehn und werden in den kommenden Monaten fünfzehn.
Es handelt sich um die Klasse eines öffentlichen Gymnasiums in einem guten Außenbezirk Berlins – und ich bin total frappiert darüber, dass nahezu alles, was ich hier beobachte, komplett anders ist, als ich über das Leben von Jugendlichen heute aus den Medien entnehme.
Irgendetwas stimmt hier also nicht. Doch was ist es? Sind die Jugendlichen meines Beobachtungskreises gleichsam aus der Zeit gefallen? Oder ist es vielmehr so, dass die Medien uns aus Eigennutz einen krachenden Unsinn auftischen? So, wie ich es sehe, hat es anscheinend von beidem etwas.
Nachdem zum Ende der Grundschulzeit alle Kinder von einer großen Welle der Verliebtheit überrollt wurden, ist seitdem in dieser Hinsicht erstaunlicherweise komplett Ruhe. In der gesamten Klasse gibt es kein Paar und auch sonst ist nahezu niemand aus der Klasse verliebt. Sex ist noch überhaupt kein Thema, vor allem bei den Mädchen.
Zur gleichen Zeit sind viele Mädchen im Zentrum Berlins bereits schwanger.
Auch über Alkohol, Zigaretten und Drogen wird mehr geredet als dass diese Dinge tatsächlich präsent wären. Die Jungen zeigen zwar manchmal irgendwelche schwarzen Pillen, doch ob die harmlos sind oder nicht, erschließt sich nicht. Sie prahlen auch mit Partys und Alkoholräuschen, doch ein Mädchen aus der Klasse ist noch nicht dabei gewesen.
Zur selben Zeit sind viele Jugendliche im Zentrum Berlins bereits alkoholsüchtig und drogenabhängig.
Eigentlich lässt das keine andere Interpretation zu, als dass es die gesellschaftlichen und urbanen Zustände sind, die hier den Unterschied machen. Wachsen Kinder in geschützten Bereichen auf, dann ist eine Jugend von heute nicht viel anders als eine Jugend von vor hundert Jahren, trotz Internet und Handy.
Geraten Kinder jedoch in die Schmelztiegel des heutigen urbanen Wahnsinns, sehen die Ergebnisse völlig anders aus.
Erstaunlich an dieser Schulklasse ist auch, dass der überwiegende Teil der Jugendlichen Migrationshintergründe besitzen, die sich jedoch als so verschiedenartig erweisen – sie kommen aus dem Norden wie Süden und Osten wie Westen – so dass Ausgrenzung oder mangelnde Integration niemals Themen waren. Und spricht man sie darauf an, schauen sie einen mit großen Augen an und verstehen überhaupt nicht, wovon man redet.
Wenn die Dinge sich langsam und vernünftig entwickeln, ohne dass man sie über das Knie bricht, scheint also alles prima gelingen zu können, mit den Kindern und mit dem Leben. Wobei die wirkliche Probe allerdings noch aussteht, nämlich wie diese Jugendlichen sich später einmal, wenn sie ihre Insel verlassen haben, in unserer geisteskrank gewordenen Wirklichkeit schlagen werden, die diese Insel umgibt.
Anregungen oder Kritik bitte an Bernd Niquet.
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Bernd Niquet, „Die bewusst herbeigeführte Naivität“, Engelsdorfer Verlag, Leipzig 2014, 265 Seiten, 14 Euro, ISBN 978-3-95744-306-9.
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