Von Bernd Niquet
Als ich mich am Silvesternachmittag hingesetzt habe, um meinen Jahresabschluss zu machen, habe ich plötzlich Zahlen gesehen, die ich vorher nicht einmal geträumt habe.
Ich habe ja anlässlich der Kurshöhen nun schon vor einer Weile auf Defensive geschaltet, doch dann spurtet genau diese Defensive, das Gold, zum Jahresende noch einmal nach vorne und schießt die entscheidenden Tore. 18 Prozent habe ich im vergangenen Jahr erzielt – und das trotz einer hohen Barquote, die nichts einbringt.
Das ist irgendwie unglaublich. Man wird heute einfach gezwungen, immer reicher zu werden. Und das alles mit André Kostolanys einfacher Taktik: Buy and hold.
Im Endeffekt interessieren mich andere Dinge jedoch weit mehr. Kennen Sie beispielsweise noch „die Oma“ aus Südtirol? Das war eine alte Frau, die in ihrem Haus eine urige Bar führte und sicherlich in der Skisaison stets viel für die örtlichen Taxifahrer getan hat.
Denn uns ist es natürlich genauso gegangen wie vielen anderen, dass wir nämlich am Nachmittag viel zu lange dort geblieben sind und im Anschluss dann auf dem Rückweg der Lift über den entscheidenden Berg bereits geschlossen war. Da mussten wir dann im Sonnenuntergang wieder zurück ins Tal und mit dem Taxi nach Hause.
Diese Erinnerung ist mir heute mehr wert als das Geld, das ich im vergangenen Jahr verdient habe. Doch wann war das? Und wo?
Ein Beitrag in einem Internetboard weist mir den Weg. In Canazei. Ich schaue auf die Karte, ja, das passt. Dann ist es Weihnachten und Silvester 1987 gewesen. Da haben wir auf dem Passo Fedaeia unterhalb der Marmolada gewohnt.
Weil ich an Silvester immer besinnlich bin, suche ich mir mein Tagebuch von damals heraus. Und tatsächlich, es stimmt. Als ich in dem Buch herumblättere, stoße ich zufällig auch auf das, was ich Ende Oktober 1987 aufgeschrieben hatte. Damals hat der Dow Jones an einem Tag knapp ein Viertel seines Kurswertes verloren. Das war zwischenzeitlich eigentlich so gut wie aus meiner Erinnerung verschwunden.
Am Tag nach dem Crash bin ich damals mit einem Professor aus meiner Uni zur Tagung des Vereins für Sozialpolitik gefahren. Dort waren alle Größen der Volkswirtschaftslehre in Deutschland anwesend. Ich stand noch komplett unter Schock, denn ich hatte das Desaster am Vorabend live am Ticker verfolgt.
Auf der Tagung sprach jedoch niemand davon. Ich befand mich mitten unter den maßgebenden Volkswirten des Landes, doch das alles interessierte niemanden von ihnen. Ich denke, wenig hat mich in meinem Leben mehr geprägt als diese damaligen Beobachtungen.
Ich hatte zu diesem Zeitpunkt fast mein ganzes Geld an der Wall Street angelegt. Ich habe dann noch etwas abgewartet und schließlich Anfang 1988 alles verkauft. Auch das hat mich auf Lebenszeit geprägt.
Die Hausse am Neuen Markt bin ich danach auch vorsichtiger angegangen als diejenigen, die zu jung waren, um das Schlachten von 1987 bereits selbst miterlebt zu haben. Ich bin dann auch nicht pleite gegangen wie sie.
Im Finanzkollaps 2008 habe ich schließlich fett zugelangt im Dax. Damals bekam ich viele Mails, was für ein Idiot ich sei, schließlich würde jetzt das Finanzsystem zusammenbrechen. Doch ich war mir sicher, dass es dazu nicht kommt. Es hätte natürlich auch schiefgehen können, ist es aber nicht.
Und heute? Natürlich wird es auch mal wieder knallen. Doch ich gebe zwei Dinge zu bedenken: Erstens, wenn der Diskontierungszinssatz zukünftiger Gewinne negativ ist, müssten die Aktien eigentlich bei Unendlich stehen. Auf dem jetzigen Niveau haben wir also durchaus noch etwas Luft.
Und zweitens: Bisher hat die EZB nur Anleihen gekauft. Was wird sie wohl tun, wenn die Aktienmärkte einmal ins Wanken geraten sollten? Genau das!
Natürlich könnte man jetzt sagen, dass das alles, was wir derzeit im Finanzsektor beobachten, irgendwie nicht normal ist. Doch ist es nicht vielleicht gerade diese Sichtweise, diese Orientierung an vermeintlichen Normalitäten, was die meisten Menschen ungerechtfertigt zu großen Pessimisten macht?
Schließlich ist heute bei uns mittlerweile so vieles normal, was vorher noch absolut undenkbar war: Frieden, Nahrung im Überfluss, Krankenversorgung, Autofahren, Flugreisen, Gesundheit, Altwerden. Und da denkt auch niemand, dass das irgendwann demnächst urplötzlich alles zusammenbricht.
Anregungen oder Kritik bitte an Bernd Niquet.
******* Von Bernd Niquet ist ein n e u e s Buch erschienen *******
Bernd Niquet, „Jenseits des Geldes. FÜNFTER TEIL“, Engelsdorfer Verlag, Leipzig 2019, 624 Seiten, 22 Euro
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Bernd Niquet und die Flüchtlingskrise. Die Geschichte von Bernd Niquet ist mittlerweile in den Jahren 2015 und 2016 angekommen. Das ist die Zeit des massenhaften und ungehinderten Zustroms von Flüchtlingen nach Deutschland. Die Hauptfigur der Ereignisse muss jetzt nicht mehr wie vorher nur die Lasten seines eigenen Lebens und seiner familiären Verhältnisse schultern, sondern sieht sich darüber hinaus gezwungen, aus sich selbst herauszutreten und sich ganz grundsätzliche weiterführende Gedanken zu machen.
»Immer, wenn die große Mittelmacht auf dem europäischen Kontinent verrückt spielt, resultieren daraus immense Verwerfungen. Wird der wirtschaftlichen Nord-Süd-Teilung zur Eurorettung jetzt auch noch eine kulturelle Ost-West-Spaltung zur Flüchtlingsrettung hinzugefügt? Denn das hieße ja nichts anderes als die bildliche Kreuzigung unseres Kontinents.«
Bernd Niquet ist Jahrgang 1956 und lebt trotz seines Umzugs im vergangenen Jahr weiterhin im selben ruhigen Außenbezirk von Berlin. Die ersten vier Teile von „Jenseits des Geldes“ sind ebenfalls im Engelsdorfer Verlag erschienen, und zwar in den Jahren 2011, 2012, 2013 und 2018.
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