Von Thomas Grüner
Das vielleicht schwärzeste Quartal in der modernen Historie der Wirtschaftsdaten ist zu Ende gegangen. Da die großflächige Stillegung wirtschaftlicher Bereiche erst Ende März in Kraft getreten ist, wird das zweite Quartal 2020 die verheerenden Effekte noch weitaus deutlicher offenbaren, als dies im ersten Quartal bereits angedeutet wurde. Sobald die Berichtssaison in Schwung kommt, werden die Effekte des Lockdowns auch im Rahmen der Unternehmensgewinne schonungslos offengelegt.
Gegen Ende des Monats Juli werden die BIP-Zahlen verschiedener Länder den wirtschaftlichen Schaden beziffern, welcher durch die monatlichen Schätzungen schon seit einiger Zeit angedeutet wird. Ein hervorragender Zeitpunkt, um sich an eine wichtige Tatsache zu erinnern: Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung sind diese Zahlen für die Aktienmärkte bereits „altbekannt“, sie stellen keinen überraschenden Schock oder eine Basis für eine nachhaltige Marktschwäche mehr dar.
Extreme Erwartungshaltung
Zur Bestätigung dieser Tatsache genügt es, die aktuellen Prognosen für die BIP-Zahlen zu betrachten. Für die USA liegen sehr breit angelegte Konsens-Schätzungen vor, die ein dramatisches Bild zeichnen: Mehr als 40 Prozent Rückgang für die jährlichen Gewinne der Unternehmen im marktbreiten Aktienindex S&P 500, mehr als 30 Prozent Rückgang für das US-BIP, wenn die aktuelle Kontraktion auf das Jahr hochgerechnet wird. Als natürliche Reaktion auf die außergewöhnliche Corona-Situation haben Marktteilnehmer ihre Erwartungshaltung somit bereits extrem niedrig angesetzt. Am Ende bewegen sich Aktienmärkte genau dann sehr dynamisch, wenn eine große Diskrepanz zwischen Erwartungshaltung und Realität vorliegt – das negative Überraschungspotential ist begrenzt, so dramatisch diese Schätzungen auch ausfallen.
Verkehrte Welt am Aktienmarkt?
Wie haben sich die Aktienmärkte im zweiten Quartal 2020 in diesem denkwürdigen Umfeld behauptet? In Euro gerechnet ist der MSCI World Index um 16,1 Prozent angestiegen! Für viele kritische Marktbeobachter ist damit der Beweis erbracht, dass sich Aktienmärkte „irrational“ verhalten. Wieso steigen die Märkte, wenn sich die Wirtschaft doch offensichtlich im Krisen-Modus befindet? Diese Frage beschäftigt sich mit einem meiner absoluten Lieblingsthemen bei Aktieninvestitionen: zeitliche Verzögerung! Aktienmärkte blicken in die Zukunft, Wirtschaftsdaten liefern Resultate für die jüngste Vergangenheit. Dementsprechend sind Aktienmärkte zum Zeitpunkt der Daten-Veröffentlichung stets den berühmten Schritt weiter. Das zweite Quartal liefert ein anschauliches Beispiel für diesen relativ einfachen Zusammenhang. Die Daten sind verheerend, aber Aktienmärkte ignorieren diese Fakten nicht dadurch, dass sie im zweiten Quartal angestiegen sind. Sie haben eben die COVID-19-Dramatik im Rahmen ihres beispiellosen Kursverfalls bis zum 21. März längst eingepreist und blicken in die nahe Zukunft.
Fazit: Lassen Sie sich von den BIP-Zahlen und Gewinneinbrüchen der Unternehmen nicht aus dem übergeordneten Konzept bringen. Deswegen sind Aktienmärkte nicht dem baldigen Kollaps ausgeliefert – viel eher zeigt sich in der Rückbetrachtung, dass der Kursverfall bis Mitte März eine folgerichtige und frühe Antizipation der wirtschaftlichen Schäden durch COVID-19 war. Aktienmärkte neigen mitunter zu Übertreibungen, befeuert durch die steigende Emotionalität der Anleger – aber sie sind nicht irrational, sondern ein verlässlicher Zukunftsindikator.
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Thomas Grüner ist Gründer und Vice Chairman der Vermögensverwaltung Grüner Fisher Investments. Weitere Informationen unter www.gruener-fisher.de.
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