Von Bernd Niquet
An den Börsen sind sicherlich nahezu unzählbar mehr Crashs angekündigt worden als tatsächlich eingetroffen sind. Und Crashs haben ja zudem die Eigenschaft, dass sie fast immer dann kommen, wenn gerade niemand daran denkt.
Kürzlich habe ich ein nahezu ideales Modell eines Crashs beobachten dürften, wie völlig aus dem Nichts heraus alles zusammenkrachte. Es war wie gesagt nur ein Modell, doch ich finde es absolut faszinierend. Und glaube durchaus, dass man es auf die Aktienmärkte übertragen kann.
Es stammt nämlich nicht aus einer Börsensimulation, sondern vom Radfahren, von der Tour de France. Ich weiß nicht, ob Sie die verfolgen, doch gleich am ersten Tag, auf der ersten Etappe, die sowieso von Stürzen gezeichnet war, hat es einen Crash gegeben, wie ich ihn noch niemals erlebt habe.
Und das Wichtigste daran: Das war eine reine Kettenreaktion. Niemand hat – im wahrsten Sinne des Wortes – etwas Böses im Schilde geführt, niemand wollte jemandem schaden, es ist einfach nur saudumm gelaufen.
Und das, was anfangs nur einen einzigen Radfahrer getroffen hat, hat im Endeffekt einen großen Teil des Fahrerfeldes zu Boden gerissen, und die Straße sah aus wie ein Schlachtfeld, überall lagen Räder und Fahrer, alles war verstopft und die Helfer und Mechaniker irrten durch die Trümmer.
Zum Glück ist dabei im Endeffekt nichts passiert. Bald konnte es wieder weitergehen und niemand hat ernsthaft seine Gesundheit oder sehr viel Zeit verloren. Dennoch halte ich diesen Crash für einen idealen Modellfall.
Doch was war hier passiert? Eine junge Frau steht am Straßenrand und hält ein an einer Latte befestigtes Pappschild hoch, auf dem sie ihre Großeltern grüßt. Damit das jedoch auch in den Kameras gesehen werden kann, die entgegen der Fahrtrichtung hinter ihr stehen, wendet sie sich um und schaut rückwärts.
Dadurch bemerkt sie nicht, wie das Feld der Radfahrer auf dieser abschüssigen Strecke mit sicherlich mehr als 50 km/h lautlos in ihrem Rücken angerollt kommt. Einer der Radfahrer, der ganz außen fährt, sieht dieses leicht auf die Fahrbahn ragende Schild zu spät, fährt dagegen, wodurch sich die Frau, die das Schild weiterhin festhält, im Kreis dreht und der Fahrer zu Sturz kommt.
Der Fahrer hinter ihm muss daher ausweichen, um den nun auf dem Boden liegenden Kollegen nicht zu überfahren, und fällt dadurch ebenfalls hin. Dieser Unfall wird von den folgenden Fahrern natürlich bemerkt, die daraufhin versuchen, in Richtung Straßenmitte auszuweichen, damit jedoch ihre Nebenleute umreißen, die wiederum ihre Nebenleute umreißen und bald das gesamte Fahrerfeld dieses Abschnittes mitsamt den Rennmaschinen auf der Straße liegt.
Da die hinter ihnen Kommenden nun jedoch überhaupt nicht so schnell bremsen können, um eine Kollision mit dem aus Material und gestürzten Fahrern gebildeten Knäuel zu vermeiden, stürzen diese ebenfalls. In diesem Moment ist ein signifikanter Teil des Fahrerfeldes gestürzt und es geht nichts mehr.
Die Fahrer versuchen, sich aufzurappeln, und niemand weiß so recht, was los ist und was passiert ist. Das sieht man nur aus der Hubschrauberperspektive.
Es dauert dann etwas, bis alle wieder stehen und die Mechaniker sich durch die Reihen gekämpft haben, um zerstörtes Material zu ersetzen. Und dann geht es wieder los. Das unterscheidet diesen Crash von einem an der Börse.
Doch manchmal sind die Anlässe dort genauso wie hier. Eine perfekte Straße, trockener Asphalt, freie Sicht, niemand würde je auf die Idee kommen, dass jetzt etwas passiert.
Doch genau in diesem Moment schlägt dann der Pappkamerad zu. Der wahrlich nichts Böses im Schilde geführt hat, sondern nur seiner Liebe und Zuneigung Ausdruck verleihen wollte.
Zu viel Gutes kann also manchmal auch bitter und schlecht enden. Und man darf sein Schild nie zu hoch halten. Das sollte man sich beides unbedingt merken.
Anregungen oder Kritik bitte an Bernd Niquet.
******* Von Bernd Niquet ist ein n e u e s Buch erschienen *******
Bernd Niquet, „Jenseits des Geldes. SECHSTER TEIL“, Engelsdorfer Verlag, Leipzig 2020, 621 Seiten, 22 Euro
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Bernd Niquet und seine Tagebücher: „Der wirkliche Donnerschlag kommt dann mit Verzögerung. Auch braucht mein Inneres einige Zeit, um ihn zu realisieren. Doch als die Dinge dann klar sind und in mir sacken, mache ich etwas, was ich vorher beim Tagebuchschreiben noch niemals gemacht habe. Ich unterstreiche die wichtigen Passagen nicht wie sonst mit meiner blauen Tinte, sondern mit schwarzem Filzstift. Einunddreißig Jahre schreibe ich mittlerweile Tagebuch, das zeigt die Dimension. Hinterher bin ich selbst erschrocken. Das Tagebuch sieht jetzt aus, als sei jemand gestorben. Und in meinem Inneren fühlt es sich auch tatsächlich so an.“
Bernd Niquet ist Jahrgang 1956 und lebt in einem ruhigen Außenbezirk von Berlin. Die vorangegangenen fünf Teile von „Jenseits des Geldes“ sind ebenfalls im Engelsdorfer Verlag erschienen und zwar in den Jahren 2011, 2012, 2013, 2018 und 2019.
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