Von Thomas Grüner
Die Aktienmärkte haben den größten Teil dieses Jahres in einer Korrektur verbracht, im April wurde die zwischenzeitliche Erholungsbewegung erneut durch negative Volatilität unterbrochen. Wie viele Marktbeobachter behaupten, beginnt nun im Mai typischerweise ein saisonal schwacher Abschnitt des Jahres. Die üblichen Rufe nach dem Prinzip „Sell in May and go away“ fallen im aktuell skeptischen Umfeld bei vielen Anlegern auf fruchtbaren Boden. Einmal mehr steht also die Frage im Raum: Was ist dran an dieser Börsenweisheit und welche Rolle spielt die bisherige Korrektur?
Saisonalität nicht entscheidend
Unabhängig davon, wie sich Ihre Erwartungshaltung bezüglich der Aktienmärkte aktuell darstellt, sollten saisonale Muster nicht als entscheidungsrelevante Faktoren betrachtet werden. Der „Sell in May“-Mythos stützt sich auf die Grundlage, dass mit dem Monat Mai der „durchschnittlich schwächste Zeitraum“ an den Aktienmärkten beginnt, meistens wird dabei der Zeitraum bis Ende Oktober betrachtet. Für den historischen Kontext bietet sich der marktbreite US-Index S&P 500 an, dessen verlässliche Daten bis ins Jahr 1925 zurückreichen. In Zahlen ausgedrückt: Im Zeitraum von Mai bis Oktober hat der S&P 500 seit 1925 mit 4,5 Prozent die niedrigste Durchschnittsrendite der sechsmonatigen Zeiträume erreicht. Zufälligerweise ist das Gegenstück, der Zeitraum von Anfang November bis Ende April, mit durchschnittlichen 7,2 Prozent gleichzeitig auch der beste sechsmonatige Zeitraum.
ABER: Ein negatives Vorzeichen sucht man in dieser historischen Betrachtung vergebens. Das ist für uns der entscheidende Punkt: Es macht keinen Sinn, einen tendenziell positiven Zeitraum auszuklammern, gerade wenn man es als langfristig orientierter Anleger auf die kumulierte Rendite mit kräftigen Zinseszinseffekten anlegt.
Auch die Wahrscheinlichkeit negativer Renditen ist in der „schwachen“ Zeitspanne nicht wesentlich höher. Nur 26 der 97 vollständigen Zeiträume zwischen Mai und Oktober seit Beginn der Datenerfassung waren negativ. Von November bis April beträgt diese Zahl 24, also gab es lediglich zwei negative Fälle weniger.
Blick nach vorne
Grundsätzlich sollten Anleger immer beachten, dass die Wertentwicklung der Vergangenheit nicht aussagekräftig für die nahe Zukunft ist. Jedoch existiert die deutliche Tendenz, dass sich Aktienmärkte langfristig überwiegend im steigenden Modus befinden. Wie wahrscheinlich ist es also, dass die nächsten sechs Monate zu den unterrepräsentierten negativen Fällen gehören? Wir sehen aktuell viele Gründe, die dafür sprechen, dass die Antwort auf diese Frage lautet: Es ist nicht sehr wahrscheinlich. Wir sind nach wie vor der Meinung, dass es sich bei der aktuellen Marktbewegung um eine typische, stimmungsbedingte Korrektur handelt und nicht um einen Bärenmarkt. Korrekturen sind in der Regel mit weithin diskutierten Schreckensmeldungen verbunden – diesmal sind es die Inflation, Energiepreise, der Russland-Ukraine-Krieg und Chinas jüngste Corona-Abriegelungen. Sobald sich der Nebel der Unsicherheit lichtet, wird der Blick auf die intakten globalen Fundamentaldaten frei – und diese Perspektive fällt derzeit besser aus, als es viele Anleger im Rahmen der aktuellen Krisen wahrnehmen.
Fazit: Saisonale Muster können unterhaltsam sein, sie haben aber keinen wirklichen Einfluss auf die Aktienrenditen. Zu Beginn des Monats Mai ist die aktuelle Marktstimmung ziemlich im Keller – dies macht einen unwahren Börsenmythos nicht wirklich besser.
Fragen zum Beitrag beantworte ich gerne per E-Mail an feedback@gruener-fisher.de.
Thomas Grüner ist Gründer und Vice Chairman der Vermögensverwaltung Grüner Fisher Investments. Weitere Informationen unter www.gruener-fisher.de.
Der obige Text spiegelt die Meinung der jeweiligen Autoren wider. Instock übernimmt für dessen Richtigkeit keine Verantwortung und schließt jegliche rechtliche oder sonstige Ansprüche aus.