Von Thomas Grüner
Im aktuell schwierigen Marktumfeld finden langfristige Projektionen der Experten breiten Anklang, die sich mit „anhaltend verschlechterten Bedingungen“ für die Aktienmärkte beschäftigen. Allerdings geben diese zahlreichen Projektionen viel eher Aufschluss über die aktuelle Marktstimmung als über die tatsächlichen Rahmenbedingungen in der Zukunft.
Es gibt keine perfekte Methode, um die Marktstimmung zu messen – letztendlich ist es eher eine Kunst als eine Wissenschaft. Umfragen zum Anleger- und Verbrauchervertrauen stellen nützliche Hilfsmittel dar, aber neben diesen Kennzahlen gibt es noch eine andere Möglichkeit, die allgemeine Stimmung zu messen: Wie sehen die aktuellen Schlagzeilen in der Finanzwelt aus? In letzter Zeit häufen sich die Warnungen vor einem „ewigen Wandel“, die meisten folgen dabei einer negativen Grundtendenz und hängen mit aktuellen Ereignissen zusammen. Sie tragen zu einer niedrigen Erwartungshaltung bei und setzen die Messlatte für die Realität relativ niedrig an – aus unserer Sicht ein positives Zeichen.
Wird jetzt alles anders?
Viele Analysten nehmen die aktuelle Schwächephase der großen Tech-Unternehmen zum Anlass, das endgültige Ende ihrer Führungsrolle zu verkünden. Auf die breite Wirtschaft bezogen wird vermutet, dass wir uns auf eine Ära dauerhafter Inflation zubewegen und sich der Trend der vergangenen vier Jahrzehnte umkehrt. Erhöhte Preise wiederum sollen das Konsumverhalten der Verbraucher für immer verändern, da höhere Preise die Menschen dazu bringen, billigere Waren zu bevorzugen und dadurch der Innovationsdrang abgewürgt wird. Andere befürchten, dass COVID und die Lieferkettenprobleme eine dauerhafte und strukturelle Veränderung der Weltwirtschaft nach sich ziehen könnten. COVID würde die Arbeitsmärkte für immer neu definieren und das globale Lieferkettensystem sei nicht mehr haltbar – die Zukunft liege in regionalen Netzwerken und das Ende der Globalisierung sei eingeläutet.
Vorsicht mit diesen Prognosen über den ewigen Wandel! Die Gegenwart weit in die Zukunft zu projizieren, ist ein klassisches Beispiel für den Rezenz-Effekt, der seit jeher Anleger zu Fehlentscheidungen verleitet hat. Einige der aktuellen Entwicklungen mögen tatsächlich den Anschein erwecken, dass es sich um den Beginn eines lang anhaltenden Trends handelt. Doch die Geschichte ist voll von Beispielen vermeintlicher Paradigmenwechsel, die im Sande verlaufen sind. Ein Paradebeispiel stellen die langfristigen Prognosen für den Ölpreis dar, die in der Historie stets erheblichen Wahrnehmungsfehlern unterlagen – die Theorien von „Peak Oil“ bis hin zur „ewigen Talfahrt beim Ölpreis“ sind jedenfalls nie in der Realität angekommen.
Wir halten diese langfristigen Projektionen dennoch für nützlich, eben weil sie etwas über die aktuelle Stimmungslage aussagen. Weit in die Zukunft reichende Prognosen sind oft ein Zeichen für irrationalen Optimismus oder ungerechtfertigten Pessimismus. Aktuell ist definitiv letzteres der Fall, denn die Projektionen zeichnen ein äußerst trostloses Bild.
Fazit: Langfristige Prognosen sind mit Vorsicht zu genießen – natürlich ist es möglich, dass einige Veränderungen dauerhaft eintreten und in ferner Zukunft große Auswirkungen haben. Sie gehören aber nicht zu den zyklischen Faktoren, welche die Nachfrage nach Aktien in den nächsten 3 bis 30 Monaten beeinflussen – das ist der relevante Zeitraum für die Anlageentscheidungen von heute. Lassen Sie sich nicht vom Rezenz-Effekt auf die falsche Fährte locken.
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Thomas Grüner ist Gründer und Vice Chairman der Vermögensverwaltung Grüner Fisher Investments. Weitere Informationen unter www.gruener-fisher.de.
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