Von Thomas Grüner
Seit seinem Tiefpunkt im Juni ist der MSCI World Index mehr als 10 Prozent angestiegen und hat somit eine klassische Erholungsbewegung vollführt. Der Technologie-Sektor, der auf dem Weg nach unten überproportional betroffen war, führt die Erholungsbewegung an. Begleitet wird dieser Aufschwung jedoch von einer gehörigen Portion Pessimismus. Es gibt unzählige warnende Stimmen, die den starken Monat Juli als Bärenmarkt-Rallye bezeichnen – eine vorübergehende Atempause, bevor noch tiefere Einbrüche zu erwarten sind.
Pessimismus des Unglaubens
Ob nun über die Sommerzeit hinweg eine entspannte Bullenphase folgt oder die negative Volatilität kurzfristig erneut zuschlägt, lässt sich natürlich nicht mit Sicherheit vorhersagen. Allerdings spricht die aktuelle Grundstimmung deutlich dafür, dass wir uns in einer „frischen“ Bullenmarktphase befinden. Ken Fisher bezeichnet diesen emotionalen Zustand als „Pessimismus des Unglaubens“ – die Tendenz, gute Nachrichten zu ignorieren oder positive Fakten ins Negative zu drehen. Dieses Prinzip wurde häufig auf gute Wirtschaftsdaten angewendet, die in den vergangenen sechs Wochen veröffentlicht wurden. In den meisten Berichten werden expansive Daten als Auslöser für weitere Zinserhöhungen durch die Fed befürchtet, was bedeutet, dass noch mehr Probleme auf uns zukommen. Die sinkenden Öl- und Gaspreise wurden in den Schlagzeilen nicht als Erleichterung, sondern als Symptom einer schwachen Nachfrage – einer beginnenden Rezession – dargestellt. Das BIP-Wachstum der großen Volkswirtschaften der Eurozone im zweiten Quartal? Ein letztes Aufatmen, bevor die Erdgasknappheit die Produktion ruiniert, so die gängige Meinung der vergangenen Woche.
Typisch negative Stimmung
Dies alles erinnert stark an die Stimmung, als sich die Aktienmärkte im Jahr 2020 von den Lockdowns erholten. Viele meinten, der Aufschwung würde sich als kurzlebig erweisen, und verwiesen auf den rekordschnellen Rückgang der Wirtschaftsdaten und die steigenden COVID-Fallzahlen. Als sich die Aktienmärkte der Eurozone im Sommer und Herbst 2012 von ihrem regionalen Bärenmarkt erholten, verwiesen die Pessimisten auf die immer noch hohen spanischen und italienischen Anleihezinsen, die anhaltende Rezession in der Eurozone, das angeblich erhöhte Grexit-Risiko und vieles mehr. Und nach dem Tiefstand der Aktien während des Bärenmarktes, der die globale Finanzkrise im März 2009 begleitete, verwiesen Pessimisten auf die Rettungsaktionen für die Autoindustrie, kommunale Anleihen, einbrechende Gewinne, die anhaltende Rezession und andere Probleme. In allen Situationen haben die Aktienmärkte den Lärm ausgeblendet und sich auf die Zukunft konzentriert, die sich tendenziell vielversprechender dargestellt hat, als es sich die Mehrheit der Marktteilnehmer vorstellen konnte.
Fazit: Möglicherweise läuft die Erholungsbewegung weiter, vielleicht kehrt die negative Volatilität zurück. Vielleicht wird sogar die globale Zinsstrukturkurve dramatisch invertiert und es kommt zu einer schrecklichen Rezession. An den Aktienmärkten geht es aber nicht um „möglicherweise“ oder „vielleicht“ – es geht um „wahrscheinlich“. Und hier lässt sich im Sommer 2022 feststellen: Es ist wahrscheinlich, dass die Realität weiterhin die niedrige Erwartungshaltung übertrifft. Denn die Schlagzeilen bleiben düster und die Aktienmärkte haben über Monate hinweg offensichtlich negative Tendenzen einpreisen können. Alles, was nicht in einer Katastrophe endet, birgt jetzt die Chance auf eine positive Überraschung – ein gutes Zeichen für Aktienanleger.
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Thomas Grüner ist Gründer und Vice Chairman der Vermögensverwaltung Grüner Fisher Investments. Weitere Informationen unter www.gruener-fisher.de.
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