Von Thomas Grüner
Totgesagte leben länger – nach diesem Motto hat der deutsche Aktienmarkt seit dem Zwischentief am 3. Oktober eine enorme Rallye hingelegt und ist um rund 27 Prozent angestiegen. Auch der etwas breiter gefasste MSCI Germany Index, der eine gewisse Vergleichbarkeit zu anderen Länderindizes herstellt, konnte in dieser Größenordnung zulegen. Für Investoren aus dem US-Dollar-Raum dürfte insbesondere die Tatsache interessant sein, dass aufgrund der günstigen Euro/Dollar-Entwicklung die Rendite des MSCI Germany Index in US-Dollar auf mehr als 40 Prozent angewachsen ist. Wo kommt diese Dynamik her?
Zahlen sorgen für Skepsis
Am vergangenen Freitag berichtete das Statistische Bundesamt, dass das deutsche BIP im vierten Quartal 2022 (im Vergleich zum Vorquartal) stagnierte. Eine Stagnation ist in der Regel keine gute Nachricht, allerdings waren zuvor die Erwartungen an die deutsche Wirtschaft über viele Monate hinweg gesunken. Es dominierten die Befürchtungen, dass die Erdgas-Verknappung zu Energierationierungen und Stromausfällen führen könnte. Die mächtige Chemieindustrie würde in diesem Zusammenhang zu Produktionskürzungen gezwungen sein, da Erdgas ein wichtiger Ausgangsstoff für verschiedene chemische Produkte ist. Pessimismus war über längere Zeit hinweg das Gebot der Stunde.
Realität schlägt Erwartungen
Sollten spätere Schätzungen die BIP-Stagnation nun bestätigen, würde dies allerdings bedeuten, dass Deutschland die weithin erwartete Rezession bisher erfolgreich vermieden hat. Für die Aktienmärkte greift also die übliche Regel: Wenn die Realität die düsteren Erwartungen übertrifft, klettern Aktien typischerweise an der Mauer der Angst empor. Dazu muss die Realität aber nicht perfekt sein – was sie zugegebenermaßen auch nicht ist und vermutlich nie sein wird.
Wie die dynamischen Renditen seit dem Tiefpunkt zeigen, besteht die entscheidende Tatsache darin, dass sich Aktienmärkte sehr früh bewegen. Sie gehen offensichtlich bereits davon aus, dass die Realität die Erwartungen in absehbarer Zeit übertreffen wird. Dabei warten die Aktienmärkte allerdings nicht auf eine Bestätigung, dass dies geschehen ist. Es gibt kein Entwarnungssignal und kein grünes Licht – wer darauf wartet, erhöht wie immer die Wahrscheinlichkeit, große Gewinne zu verpassen.
Schnelle Reaktionen
Der deutsche Aktienmarkt hat eine zähe Abwärtsbewegung hinter sich, die bereits im vierten Quartal 2021 startete. Sämtliche Stimmungsindikatoren zeigten mehr und mehr nach unten, schlechte Wirtschaftsnachrichten befeuerten den Pessimismus und in der Nähe des Zwischentiefs zu Beginn des vierten Quartals 2022 war sich die Mehrheit der Experten einig, dass Deutschland in eine Rezession schlittert. In dieser Abwärtsphase haben die Aktien niemals gezögert, die verschlechterten Bedingungen, Ängste und Prognosen einzupreisen. Jetzt preisen sie ebenso schnell die „neuen“ Bedingungen ein, die besser ausfallen als weithin befürchtet wurde.
Fazit: Ein schneller Anstieg der Aktienkurse, wenn die mäßige Realität die extrem miesen Erwartungen übertrifft, ist ein gewohntes Bewegungsmuster und deutet aus unserer Sicht auf eine typische Erholung hin. Die Erwartungshaltung bezüglich der deutschen Wirtschaft ist längst auf einem niedrigen Niveau angelangt – dies schafft gute Voraussetzungen für positive Überraschungen im Börsenjahr 2023. Dieses Prinzip gilt nicht nur für den deutschen Aktienmarkt, sondern weltweit – global orientierte Anleger dürfen sich also nach einer zermürbenden Phase auf neue Chancen freuen.
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Thomas Grüner ist Gründer und Vice Chairman der Vermögensverwaltung Grüner Fisher Investments. Weitere Informationen unter www.gruener-fisher.de.
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