Von Thomas Grüner
Die wirtschaftliche Realität ist in vielerlei Hinsicht besser ausgefallen, als es die angsterfüllte Anlegerstimmung vermuten ließ – aus unserer Sicht einer der Haupttreiber für die Aufwärtsbewegung der Aktienmärkte seit Oktober 2022. Ein eindrucksvolles Beispiel hierfür: die Energiesituation in Europa. Die Abhängigkeit von russischer Energie führte zu enormen Preisspitzen und weit verbreiteten Sorgen vor Rationierungen und Stromausfällen. In der Folge erreichten die europäischen Erdgaspreise bis in den Sommer des Jahres 2022 astronomische Höhen und auch die weltweiten Ölpreise stiegen auf den höchsten Stand seit mehr als einem Jahrzehnt.
Diese Entwicklungen überzeugten die meisten Experten, dass die Energieknappheit in Europa zu einer tiefen Rezession führen würde. Doch nun, da wir uns dem Sommer 2023 nähern und die europäischen Gaspreise auf den niedrigsten Stand seit zwei Jahren gesunken sind, sieht die Energiesituation deutlich weniger schlimm aus. Die Bedingungen im Energiesektor sind natürlich weiterhin nicht makellos, aber das ist für die Aktienmärkte auch gar nicht nötig, um eine kräftige Erholungsbewegung früh zu antizipieren.
Schlimmste Befürchtungen abgewendet
Letztendlich ist die Realität besser ausgefallen, weil Russland viel von seinem energiepolitischen Einfluss auf Europa verloren hat. Europäische Länder verlagerten ihren Fokus auf andere Gasquellen und forcierten teilweise den Ausbau ihrer LNG-Infrastruktur, um die russischen Gasimporte zu reduzieren. Dieser Übergang ging nicht schmerzlos vonstatten, Unternehmen und Haushalte hatten trotz staatlicher Unterstützung mit den höheren Energiepreisen stark zu kämpfen. Aus Sicht der Anleger haben sich die Prognosen einer tiefen, energiebedingten Rezession in Europa jedoch bisher nicht bewahrheitet und mittlerweile sind die Energiepreise wieder auf dem Vorkrisenniveau angelangt.
Für die Aktienmärkte sind die fallenden Energiepreise keine Neuigkeit. Europäische Aktien wurden vom November 2021 bis zum September 2022 härter getroffen als die globalen Aktienmärkte, die Schwerpunkte der Energiekrise wurden somit früh antizipiert. Ebenso ging die Erholungsbewegung vonstatten, noch bevor die offiziellen Wirtschaftsdaten eine Verbesserung anzeigten. Mittlerweile reagieren auch die Experten, wie die jüngsten Prognosen der Europäischen Kommission zeigen. In der EU rechnete die Kommission im vergangenen Herbst mit einem BIP-Rückgang von 0,3 Prozent für das Jahr 2023. Seit vergangener Woche wird nun ein BIP-Wachstum von 1,0 Prozent prognostiziert – aufgrund „besserer Daten als erwartet“. Auch die BIP-Prognosen für Deutschland wurden von 0,6 Prozent Rückgang auf 0,7 Prozent Wachstum korrigiert.
Fazit: Die Aktienmärkte haben die Entspannung der Energiekrise früh antizipiert. Das bedeutet nicht, dass die wirtschaftlichen Bedingungen hervorragend sind. Die Inflation verlangsamt sich zwar, liegt aber immer noch deutlich über den Raten von vor 2021. Die Schwerindustrie befindet sich nach wie vor in einer Schwächephase und die Einkaufsmanagerindizes des verarbeitenden Gewerbes der Region liegen seit Juli 2022 unter 50. Mit Blick auf die Zukunft schließen wir die Möglichkeit einer Rezession in der Eurozone im Laufe dieses Jahres nicht aus. Wir behalten die weitere Entwicklung des Energiesektors und auch die Kreditvergabe genau im Auge. Anleger sollten jedoch bedenken, dass Aktienmarktbewegungen am stärksten von der Diskrepanz zwischen den Erwartungen und der Realität abhängen – und erstere sind nach wie vor recht niedrig.
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Thomas Grüner ist Gründer und Vice Chairman der Vermögensverwaltung Grüner Fisher Investments. Weitere Informationen unter www.gruener-fisher.de.
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