Von Thomas Grüner
Das Gesamt-BIP der Eurozone wuchs im zweiten Quartal um 0,3 Prozent im Vergleich zum Vorquartal. Damit wurde die Wachstumsrate des ersten Quartals wiederholt und die Erwartungen von 0,2 Prozent Wachstum übertroffen – und die bescheidene Erholung nach einem sehr schwachen Jahr 2023 fortgesetzt.
Sieben der zehn bisher gemeldeten Mitgliedsstaaten verzeichneten ein Wachstum, darunter drei der vier größten: Spanien (0,8 Prozent), Frankreich (0,3 Prozent) und Italien (0,2 Prozent). Die Schlagzeilen konzentrierten sich jedoch auf das große Land, das nicht gewachsen ist: Deutschland, dessen BIP im Quartalsvergleich um 0,1 Prozent gesunken ist. Damit verstärkten sich die Befürchtungen, dass die größte Volkswirtschaft der Eurozone mit einer Rezession liebäugelt und zum „kranken Mann Europas“ wird.
Bekannte Probleme
Die zahlreichen Probleme in Deutschland lassen sich nicht wegdiskutieren, für die Aktienmärkte ist jedoch ein Großteil dieser Diskussionen nebensächlich. Es wird viel über Deutschlands Zusammensetzung und seine relativ große Abhängigkeit von der Schwerindustrie – insbesondere der Automobilindustrie – geredet. Dies ist der Grund für die schwachen Langzeitprognosen, in denen davor gewarnt wird, dass diese Industrie durch den subventionierten internationalen Wettbewerb und das Fehlen einer groß angelegten Industriestrategie der Regierung ausgehöhlt werden könnte. Aber das sind alles langfristige strukturelle Themen, die bekannt sind. Sie sind auch nicht unbedingt richtig, da der Privatsektor in Deutschland den Großteil der Investitionen tätigt und der Dienstleistungssektor viel mehr leistet, als man denkt.
Für die Aktienmärkte ist die Sache viel einfacher: Haben sie durch die BIP-Zahlen etwas Neues und Negatives über die deutsche Wirtschaft erfahren, was sie zuvor noch nicht wussten? Das glauben wir nicht. Die relative Schwäche reicht schon einige Jahre zurück und höhere Energiepreise sind ein alter Hut. Das Gleiche gilt für die Probleme der Autoindustrie, einschließlich der schwankenden Nachfrage nach Elektrofahrzeugen und Chinas subventioniertem Exportschub. Wenn man sich die Renditen der deutschen Automobilindustrie im Vergleich zu anderen deutschen Aktien ansieht, sind sich die Märkte dessen wohl bewusst.
Realität ist nicht so schlecht
Im Begleitkommentar des Statistischen Bundesamtes wird darauf hingewiesen, dass der Rückgang auf sinkende Bau- und Ausrüstungsinvestitionen zurückzuführen ist. Diese Kategorien sind eng gefasst und deuten kaum auf eine allgemeine Wirtschaftsschwäche hin. Sie sagen nichts über den Dienstleistungssektor aus, der mehr als 60 Prozent des deutschen BIP ausmacht. Sie sagen ebenso nichts über die Verbraucherausgaben aus, die auf der Ausgabenebene den größten Teil der Aktivitäten ausmachen. Der Einkaufsmanagerindex für den Dienstleistungssektor von S&P Global gibt Aufschluss darüber und liegt seit März über 50, was auf Wachstum hindeutet. Diese Tatsache fand im BIP-Bericht kaum Beachtung, was unserer Meinung nach auf eine große Kluft zwischen Stimmung und Realität hindeutet.
Fazit: Das BIP in der Eurozone liefert ein gemischtes Bild. Der Fokus liegt tendenziell auf den negativen Einflussfaktoren, was auf eine immer noch skeptische Grundstimmung schließen lässt. Die deutsche Wirtschaft läuft sicherlich nicht auf Hochtouren, aber die negativen Aspekte sind weitreichend bekannt und Deutschland hat eine gute Chance, nach dem Prinzip „besser als erwartet“ für eine positive Überraschung zu sorgen – und das ist es, was die Aktienmärkte bewegt.
Fragen zum Beitrag beantworte ich gerne per E-Mail an feedback@gruener-fisher.de.
Thomas Grüner ist Gründer und Vice Chairman der Vermögensverwaltung Grüner Fisher Investments. Weitere Informationen unter www.gruener-fisher.de.
Der obige Text spiegelt die Meinung der jeweiligen Autoren wider. Instock übernimmt für dessen Richtigkeit keine Verantwortung und schließt jegliche rechtliche oder sonstige Ansprüche aus.