Von Thomas Grüner
Aktuell haben die Aktienmärkte mit negativer Volatilität zu kämpfen, Analysten sind angestrengt auf der Suche nach den vermeintlichen Ursachen. Beispielsweise wurde der US-Einkaufsmanagerindex für das verarbeitende Gewerbe dafür verantwortlich gemacht, dass der S&P 500 nach dem verlängerten US-Wochenende um mehr als 2 Prozent nach unten ging. Besagter Index, berechnet vom Institute for Supply Management (ISM), verfehlte im August die Erwartungen und befand sich mit einem Wert von 47,2 erneut im kontraktiven Bereich. Die Schlagzeilen bezeichneten dies als Beweis dafür, dass die Anleger die wirtschaftlichen Risiken zu voreilig abgetan hatten, nachdem sie vor einem Monat über die Arbeitslosigkeit erschrocken waren. Wir sehen einen ganz anderen Fehler: eine Überschätzung der Bedeutung des verarbeitenden Gewerbes für das US-Wachstum.
Zugegeben, die Datenlage ist nicht gerade rosig. Neben der eingeschränkten Aussagekraft eines Einkaufsmanagerindex an sich gilt es allerdings zusätzlich zu beachten, dass das verarbeitende Gewerbe nicht das Lebenselixier der US-Wirtschaft ist. Im vergangenen Jahr erwirtschaftete das verarbeitende Gewerbe nur 17,0 Prozent des US-BIP. Der Rest entstammt in erster Linie dem Dienstleistungssektor mit 71,7 Prozent, welcher sich meist in seinem eigenen Universum bewegt – das verarbeitende Gewerbe ist kein Frühindikator für die Entwicklung dieses Sektors.
Keine Vorhersagekraft
Wenn das verarbeitende Gewerbe schwächelt, ziehen Dienstleistungen und das BIP nicht automatisch nach, wie der Zeitraum seit Oktober 2022 eindrucksvoll aufzeigt. Seit Oktober 2022 ist der ISM-Einkaufsmanagerindex für das verarbeitende Gewerbe in den USA bis auf einen Monat durchgehend im kontraktiven Bereich. Auch die produktions- und ausgabenbasierten Indikatoren für die Schwerindustrie haben sich schlecht entwickelt. Dennoch ist das US-BIP die ganze Zeit über stetig gewachsen und hat damit den ständigen Rezessionswarnungen getrotzt. Wenn also eine anhaltende Schwächephase im verarbeitenden Gewerbe die US-Wirtschaft und den Bullenmarkt in den vergangenen zwei Jahren nicht zum Entgleisen gebracht hat, ist es schwer zu verstehen, warum es jetzt plötzlich ein massives Warnzeichen sein soll.
Die Märkte reagieren am meisten auf Überraschungen und wir wagen zu behaupten, dass die Schwäche der Industrie zu diesem Zeitpunkt weder neu noch überraschend ist. Der Bärenmarkt von 2022 hatte eine Vielzahl von stimmungsbedingten Ursachen, aber die Angst vor einer Rezession war eine der Hauptgründe. Dieser Rückgang hat wahrscheinlich die Schwächen im verarbeitenden Gewerbe, die sich gegen Ende des Jahres abzeichneten, in hohem Maße vorweggenommen. Im Jahr 2023 lernten die Märkte dann – wenn auch nicht bewusst – dass die US-Produktion auch dann wachsen kann, wenn das verarbeitende Gewerbe in Mitleidenschaft gezogen wird. Die Aktienmärkte haben die Lage erkannt und sich dynamisch weiterentwickelt – und sie werden an diesem Punkt nicht mehr zurückblicken.
Fazit: Das verarbeitende Gewerbe hat in den USA eine historische Bedeutung und einen großen Einfluss auf die Stimmung. Aktienmärkte können jedoch an jedem beliebigen Tag fallen, auch ohne vermeintlich triftigen Grund. Es wäre ein Fehler, kurzfristige Stimmungsreaktionen – beispielsweise auf schwächelnde Einkaufsmanagerindizes – als überraschendes wirtschaftliches Risiko zu deuten. Die längerfristigen Trends zeigen, dass sich die Aktienmärkte robust über Schwächen im verarbeitenden Gewerbe hinwegsetzen können.
Fragen zum Beitrag beantworte ich gerne per E-Mail an feedback@gruener-fisher.de.
Thomas Grüner ist Gründer und Vice Chairman der Vermögensverwaltung Grüner Fisher Investments. Weitere Informationen unter www.gruener-fisher.de.
Der obige Text spiegelt die Meinung der jeweiligen Autoren wider. Instock übernimmt für dessen Richtigkeit keine Verantwortung und schließt jegliche rechtliche oder sonstige Ansprüche aus.